Wie die Kamera meine Sichtweise ändern kann. Eine philosophische Fokussierung aufs Fotografieren.
Menschen blockieren Autobahnen, barfüssige Kinder wühlen in Müllhalden, Seevögel sterben einen qualvollen Tod im ölverseuchten Meer. Dokumentiertes Zeitgeschehen, tonnenweise verstörende Fotos, die oft mehr sagen als tausend Worte. Ertrinken kann man auch in der scheinbar niemals enden wollenden Flut blendend schöner Bilder, etwa bei Instagram und Co. Aufgehübschte Porträts von noch schöneren Menschen. Prachtvolle Darstellungen in unzähligen virtuellen Foto-Galerien. Wunderbar komponierte Abbildungen sind das. Perfekt belichtet bis ins kleinste Detail, wetteifern sie darum, wer die meisten Daumen-hoch bekommt. Ob Dokumentation oder Attraktion, stets ist maximale Aufmerksamkeit gefragt.
Wenn ich mir zu viel von diesen Vorzeigefotos anschaue, neige ich dazu, neidisch zu werden. Denn so perfekt krieg ich das nicht hin. Muss ich aber auch nicht. Doch inzwischen weiß ich, dass es nicht darum geht, ein gutes Bild zu machen, sondern Freude am Fotografieren zu entdecken.
Freude am eigenen Sehen entdecken
Doch der Reihe nach. Denn es geht um noch mehr, nämlich die Freude am eigenen Sehen zu entwickeln. Das fängt zunächst damit an, alte Sichtweisen abzulegen. Aber kann ich das? Oder will ich das? Kurz gesagt, meine Motivation muss auf den Prüfstand. Bin ich bereit, neue Sichtweisen einzunehmen? Bin ich überhaupt bereit, meine bisherige Sichtweise verändern zu lassen?
Zuerst muss ich mir also erst mal selber gehörig auf den Zahn fühlen. Erst dann kanns weitergehen. Immerhin, danach wird’s spannend. Fortan fogografiere ich nicht mehr, um Aufmerksamkeit zu erhaschen, sondern tue das für mich selbst. Bin frei, den Anspruch loszulassen, dass meine Fotos irgendwann von irgendjemandem irgendwie und irgendwo bewundert werden. Lernvers: Bin ich frei davon, Anerkennung mit guten Fotos zu suchen?
Dann kanns losgehen. Die Kamera wird zum Werkzeug der eigenen Wahrnehmung. Ich darf mich frei fühlen, um mich in die Arbeit des Sehens zu versenken, frei hinschauen zu können auf das, was mich anspricht. Dann bin ich losgelöst vom Zwang, nicht auf das Ergebnis schielen zu müssen. Ich darf Freude am Prozess erleben statt am Ergebnis. Der Schlüssel zum Fotografieren lernen ist also dort zu finden, wo ich anfange das für mich selbst zu tun, statt ein „gutes“ Foto machen zu wollen.
Fotografieren lernen heißt sehen lernen
Ich liebe Fotos von Barbara Klemm. Sie war jahrelang für die Frankfurter Allgemeine als Fotoreporterin unterwegs, in aller Welt, entweder um Politiker oder wichtige Persönlichkeiten zu porträtieren. Aber auch um ihre persönlichen Eindrücke festzuhalten, die sie auf ihren zahllosen Reisen sammeln durfte. Für mein Empfinden sind ihre schwarz-weißen Abbildungen unfassbar schön komponiert. Natürlich sind das „gute“ Bilder, die sie mit ihrer Leica gemacht hat. Doch ich bin überzeugt, dass sie das nicht in erster Linie getan hat, um „gute“ Bilder zu machen. Vielmehr hat sie etwas wesentliches begriffen hat. Sie hat gelernt, auf ihre ganz eigene, persönliche Art und Weise zu sehen, und das auszudrücken. „Authentisch sein“ heißt das im Fachjargon.
Fotografieren lernen heißt mit den eigenen Augen sehen lernen. Nur, was bedeutet sehen? Na klar, sehen ist zunächst neben hören, schmecken, tasten, riechen einer der fünf menschlichen Sinne. Der wichtigste, sagen übereinstimmend viele Untersuchungen. Denen zufolge erfasst das menschliche Auge rund 80 Prozent der Informationen um uns herum.
Die herausragende Funktion der Augen macht auch ein Blick in die Bibel deutlich. In der Luther-Übersetzung von 2017 etwa lese ich heraus, welch besondere Aufgabe unsere Augen haben: Das Auge ist das Licht des Leibes. Wenn dein Auge lauter ist, so wird dein ganzer Leib licht sein. (zu lesen im Buch von Matthäus, Kapitel 6, Vers 22) Drastischer drückt das die Hoffnung für Alle-Übersetzung aus: Durch die Augen fällt das Licht in deinen Körper. Wenn sie klar sehen, bist du ganz und gar vom Licht erfüllt. Wenn sie aber durch Neid oder Habgier getrübt sind, ist es dunkel in dir. Und wie tief ist diese Finsternis, wenn das Licht in deinem Innern erloschen ist!
Doch sehen ist mehr als nur zu sehen. Im Altgriechischen etwa meint das Wort „oida“ sehen UND erkennen. Ähnlich verhält es sich im Englischen. „Oh, yes, I see“, sagen viele, und meinen: „Ach ja, ich verstehe.“ Selbst im Deutschen ist das sichtbar. So zeigt sich jemand einsichtig, wenn er zugibt, dass er etwas einsieht.
Wir sehen: Unsere Augen sind eine Art menschliche Kamera. Daher lautet die nächste spannende Frage, die ich mir stellen muss: Wie sehe ich? Was sehe ich? Schließlich, was will ich sehen? Möglicherweise muss ich sogar noch eine Schippe tiefer graben, muss mir die kritische Frage vor Augen stellen lassen: Bin ich überhaupt bereit, mir darüber klar zu werden, wie ich sehe? Damit schließt sich der Kreis: Bin ich bereit, meine Sichtweise ändern zu lassen?
Introvertierte in ihrem Element
Stilles Beobachten ist eine Quelle der Erfahrung. Introvertierte sind oft gute Beobachter. Beim visuellen Wahrnehmen sind sie ganz in ihrem Element. Kreatives Arbeiten ist mit viel Arbeit verbunden, Sehen ist der entscheidende Teil des Fotografierens, will heißen: kreatives Sehen bedeutet Arbeit.
Übung macht den Meister, auch beim Ablegen von Perfektion. Wenn ich zu hohe Erwartungen an mich selbst stelle, nehme ich mir die Freiheit weg. Wenn mich meine Fotos selber nicht überzeugen, dann ist es Zeit umzudenken. Was mir mega geholfen hat: Perfekte Fotos sind oft langweilig. Der innere Kritiker ist stets emotional negativ und spricht niemals konstruktiv. Vordergründig will er uns vor Enttäuschung zu schützen, tatsächlich verhindert er das Entdecken der eigenen Persönlichkeit. Ich behaupte: wenn mich mein Bild anschaut und ich spüre, ja, das ist mein Bild, das drückt etwas von dem aus, wie ich lebe, dann ist ein Bild gut. Egal, was andere darüber denken.
Wesentliches Ziel des Fotografierens im Sinne einer Wahrnehmungsschule ist also nicht „perfekte Bilder zu machen“, sondern meine Wahrnehmung verändern zu lassen. Beim Betrachten der Welt um mich herum kann ich mir dabei einige ganz wenige Leitfragen stellen:
- Was begeistert mich?
- Was lässt mich staunen?
- Was ruft Widerspruch in mir hervor?
Das kann ich auch sehr gut an Fotos studieren, die andere Lichtbildner gemacht haben. Das Internet quillt über davon. Ergiebiger finde ich es allerdings, in Büchern von oder über Fotografen zu blättern, Es lohnt, in öffentlichen Bibliotheken zu stöbern. Eine Fundgrube für vielfältige Inspirationen. Büchereien sind ein Segen.
Welche Fotos berühren mich, und welche sagen mir nichts? Erfrischend, dabei eine innere Rezension darüber zu verfassen, so als ob ich einem guten Freund erklären würde, warum mich das eine fesselt, das andere dagegen völlig kalt lässt.
Meine ultimative Checklisten
So weit das theoretisch-philosophischen Vorgeplänkel, das ich hier zusammenfasse:
- Bin ich bereit, bewusst zu sehen?
- Will ich dem inneren Kritiker ein Absage erteilen, der mir den Druck auferlegen möchte, ein gutes Foto machen zu müssen?
- Lasse ich Freude am Nicht-Wissen zu?
- Nehme ich mir Zeit, in Ruhe zu beobachten?
Ganz ohne ein paar technische Grundlagen übers Fotografieren geht’s dann doch nicht. Natürlich nicht. Unzählige Bücher, Tutorials und Youtube-Videos bringen einem dieses notwendige Handwerkszeug bei. Ein paar einfache Grundsätze hab ich selbstverständlich im Kopf. Doch auch die sind kein Gesetz, das ich sklavisch befolgen müsste, Manchmal lohnt es, dem Instinkt zu folgen. Dennoch, der Vollständigkeit halber hier meine Liste an technischen Grundlagen, die ich für mich als hilfreich erkannt habe.
- Der erste Eindruck ist manchmal der beste
- Goldener Schnitt vertikal und horizontal beachten
- gerader Horizont (Hilflinien im Display einblenden)
- Direktes Licht von hinten umgehen
- Rhythmus von Formen und Linien (geometrische Elemente) erkennen
- Das Licht mit Schatten malen lassen
- Nur Standardbrennweite verwenden (35mm, 42mm oder 50 mm)
- Überschneidung von Objekten vermeiden
- Kluger Spruch (keine Ahnung, welcher Fotograf den mal gesagt hat): Wenn du meinst, dass du nah genug dran bist, dann geh einen Schritt näher.
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