CARD statt Misophonie

Misophonie ist noch nicht als Krankheit anerkannt. Um diesem Ziel näher zu kommen, haben Tom Dozier und Nate Mitchell vom Misophonia Institute (MI) jetzt ein umfassendes Erklärungsmodell zur Diagnose vorgestellt. Einige grundlegende Aussagen ihres Artikels fasse ich in diesem Beitrag zusammen,

Quelle und Copyright des englischsprachigen Originals: Dozier T. and Mitchell N. Novel five-phase model for understanding the nature of misophonia, a conditioned aversive reflex disorder [version 2; peer review: 1 approved]. F1000Research 2023, 12:808 (https://doi.org/10.12688/f1000research.133506.2)

Darum geht es

Bereits Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hatte Iwan Pawlow die Konditionierung beschrieben. Obwohl viele Menschen unter ihr litten, hat die Wissenschaft fast einhundert Jahre lang dem Problem der Misophonie keine Aufmerksamkeit geschenkt. Erst um die Jahrtausendwende prägte eine Audiologin den Begriff selective sound sensitivity syndrome. Noch einmal zehn Jahre vergingen, bevor erste systematische Forschungen dieser Krankeit begannen.

Nach aktuellem Forschungsstand wird Misophonie als Zustand betrachtet, bei dem jemand einen harmlosen Reiz hört oder sieht, etwa Kaugeräusche, und dabei sofort intensive, negative emotionale Reaktion erlebt, die physiologische Beschwerden und starke Verhaltensreaktionen hervorrufen. Die Krankheit zeigt sich in den allermeisten Fällen im frühen Teenager-alter und beeinträchtigt soziale Beziehungen mehr oder weniger stark.

Doch Misophonie ist noch immer nicht in den beiden wichtigsten Klassifikationen für Krankheiten (DSM-5 und ICD-11) zu finden. Zum einen liegen nur wenige Studien vor. Zum anderen verfolgen die Wissenschaftler unterschiedliche Ansätze. Eine Studie etwa geht davon aus, dass Misophonie auf eine anatomische Anomalie im zentralen Nervensystem zurückzuführen ist. Andere schlagen eine Störung zwischen dem limbischem System und Hörbahnen als Erklärungsansatz vor und sprechen von einer „Klang-Emotions-Synästhesie“. Ein weiterer Ansatz legt neuronale Mechanismen zugrunde, schlussfolgern jedoch, dass die emotionalen Reaktionen bei der Misophonie ein erlernter emotionaler Reflex ist.

Bereits zu Beginn der Forschung, vor rund zwanzig Jahren, gingen die Wissenschaftler von einer Konditionierung aus, bei der das autonome Nervensystem (ANS) eine wesentliche Rolle spielt. Dies ist auch bei den meisten Theorien der Fall, die aktuell diskutiert werden.

Die Besonderheit der jetzt vorgelegten Forschungsarbeit geht davon aus, dass es sich beim ersten Reflex der Konditionierung um eine Skelettmuskelmuskelreaktion (internal physical reflex) handelt (Figure 1). Demnach löst zunächst ein Trigger eine IPR aus, die extreme negative Gefühle verursachen. Damit verbunden ist eine Stressantwort (Herzrasen, Schweißreaktion, Muskelkontraktion), aus der Versuche folgen, den Stress zu bewältigen. Die gestrichelten Linien machen Zweiteffekte deutlich.

Das Besondere am Erklärungsversuch von Dozier ist, dass sich Misophonie zunächst als körperlicher Reflex zeigt (in der Regel ein Skelettmuskelreflex). Erst danach erst entwickelt sich der emotionale Reflex. Andere Erklärungsversuche dagegen gehen davon aus, dass sich der emotionale Reflex ohne vorhergehende körperliche Reflexe bildet.

Weiterentwicklung der Theorie

Figure 2 erläuterte, wie Mitchell und Dozier die Theorie erweitert haben, die im Grundsatz auf der Pawlowschen Konditionierung basiert. Neu hinzugekommen in Phase eins sind Angst und Vermeidung, die bereits vor dem Trigger bei Misophonikern auftreten (Pre-Trigger). Phase zwei zeigt nun das gleichzeitige Auftreten von Trigger und körperlichem Reflex. Phase drei haben die Forscher erweitert um die Komponenten „Gedanken, Triebe und emotionsgesteuertes Verhalten“, in Phase vier spielt nun auch „verdeckte mentale Überprüfung“ eine Rolle. Neu hinzugekommen sind in Phase fünf die Reaktionen der Umwelt und Konsequenzen, etwa „Todesblicke“ auf Menschen, die den Trigger auslösen.

Vermeidungsverhalten und Gefühle, die mit Phase eins zusammenhängen, verstärken die erlernten Reaktionen, die mit den Phasen zwei bis fünf verbunden sind, schaffen ein dynamisches, zyklisches Muster von zunehmender Dysfunktion und Verzweiflung. Das Modell ist linear und unterscheidet sich vom zirkulären Erklärungsmodell einer Panikstörung, bei der sich jemand durch einen einzigen Gedanken in Verzweiflung getrieben sieht. Bei der Misophonie dagegen spielen sich Zyklen auf molekularer Ebene ab und bestimmen, wie schwer die Reaktion ausfällt. Diese verläuft linear mit jedem Trigger. Entscheidend für den Erklärungsversuch von Dozier und Mitchell ist Phase zwei, die Konditionierung eines körperlichen Reflexes. In klinischen Fallstudien haben sie herausgefunden, dass körperliche Reaktionen meist auf Muskelverspannungen zurückzuführen sind, was sich auch durch elektrische Messungen bei Versuchspersonen nachweisen lässt.

Phase zwei: Körperlichen und emotionalen Reflex unterscheiden

Dozier und Mitchell gehen davon aus, dass sich die von ihnen beschriebenen IPR von körperlichen Reaktionen unterscheidet, die auch andere Forscher beschreiben. Die Unterscheidung ist schwierig, doch möglich. Zum einen sind IPR verlässlich. Wenn etwa jemand als Reaktion auf einen Trigger beispielsweise die Schultern anspannt, dann wird das jedesmal so passieren. Egal ist dabei auch, ob das Geräusch von rechts oder links, vorn oder hinten entsteht. Wenn dagegen sich jemand in eine Richtung orientiert, dann wäre das Teil eines Kampf-oder-Flucht-Verhaltens, nicht aber Teil von Phase zwei. Kurzum: körperliche und emotionale Reaktion sind voneinander zu unterscheiden. So könnte etwa ein Kind „den Atem anhalten“ als IPR entwickeln, als Reaktion auf den finsteren Blick der Eltern. Dabei handelt es sich um einen konditionierten physischen Reflex, nicht jedoch um einen konditionierten emotionalen Reflex. Dozier und Mitchell berichten, dass es Betroffene gibt, die eine schwache körperliche Reaktion zeigen, nicht aber eine emotionale Reaktion. Die Unterscheidung ist daher wichtig.

Phase drei: Starke emotionale Antwort

Emotionale Reaktionen entwickeln sich wegen wiederholter Erfahrung von IPR, zusammen mit gleichzeitigen emotionalen Erfahrungen, etwa ein Konflikt mit der Person, die den Trigger verursacht.

Emotionale Reaktionen sind sehr vielfältig, wesentlich sind

  1. Ein Trigger verursacht Schmerzen („etwa wie ein Stromschlag“),
  2. Es entsteht ein Gefühl von Bedrohung, da der Trigger als Angriff erlebt wird.
  3. Emotionsgesteuertes Verhalten (sofortige Suche, wo der Trigger herkommt), zudem negative Gesichtsreaktionen, manchmal plötzliche verbale Forderungen.

Vermeidungsstrategien, die als Teil der Phase drei ablaufen, lassen sich ebenfalls unterteilen: Bei der aktiven Vermeidung geht es darum, die Einwirkung des Reizes zu beenden, indem man sich vom wahrgenommenen Auslöser entfernt oder die Person, die das auslösende Verhalten ausführt, verbal versucht zu stoppen. Das Schließen der Augen oder das Bedecken der Ohren sind passive Strategien der Vermeidung.

Phase vier: Bewältigungsstrategien

Diese Phase beschreibt das Verhalten, das zu beobachten ist, nachdem die Emotionen der Phase abgeklungen sind, oder gerade abklingen, etwa wenn jemand Schallschutzkopfhörer aufgesetzt hat und Trigger erfolgreich blockiert werden können. Eine Entspannung kann sofort erfolgen, kann aber auch länger dauern, bis zu mehr als 24 Stunden, und ist nur möglich, wenn Phase zwei (IPR) nicht mehr ausgelöst wird.

Das Problem besteht darin, dass Misophoniker oft die auslösende Person überprüfen, weil sie das Geräusch als Angriff erlebt haben. Das bestärkt den Glauben, dass der nächste Auslöser unbedingt vermieden werden muss, was wiederum Angst und Vermeidungsverhalten der ersten Phase verstärkt.

Phase fünf: Konsequenzen

Zu unterscheiden sind interne und externe Konsequenzen der Bewältigungsstrategie. Zu den internen gehören das Empfinden von Scham und Schuld. Menschen, die mit Misophonikern leben berichten, dass sie sich vom Misophoniker kontrolliert fühlen, was wiederum Schuldgefühle hervorruft. Daher ist es wichtig, dass Misophonie als Krankheit angesehen wird, um von falschen Schuld- und Schamgefühle zu befreien.

Diskussion

Dozier und Mitchell möchten folgende Behauptungen diskutiert wissen:

  1. Die Reduzierung der verdeckten mentalen Überprüfung von Auslösern kann Misophonie lindern.
  2. Obwohl rund 95 Prozent aller Betroffenen getriggert werden durch Geräusche, die durch Mund, Nase, Atemorgane hervorgerufen werden, sollte die Diagnose nicht auf diese Auslöser beschränkt werden.
  3. Misophonie ist kein Beispiel für sensorische Überreaktion, sondern konditioniert.
  4. Es gibt zahlreiche biopsychosoziale Faktoren, die Einfluss haben können, an Misophonie zu erkranken.

Grundlegendes zur Behandlung

Die Autoren erläutern einige grundlegende Folgen für die Behandlung:

  1. Misophonie ist eine chronische Krankheit, die kontinuierlich behandelt werden muss.
  2. Misophonie ensteht trotz normal funktionierender neurologischer Prozesse.
  3. Eine Heilung erscheint aktuell nicht möglich. Selbst wenn alle Symptome verschwinden, sind Rückfälle möglich oder neue Trigger können entstehen.
  4. Bei einer kognitiven Verhaltenstherapie ist es wichtig, nicht nur die Auslöser zu beseitigen,
  5. Wichtig ist zu lernen, Misophonie als chronische Krankheit zu akzeptieren, und dass das Leben dennoch einen Sinn hat.
  6. Konkret haben Dozier und Mitchell Therapien entwickelt, die vor allem auf progressiver Muskelentspannung basieren und auf Gegenkonditionierung, berichten trotz fehlender wissenschaftlicher Belege von Therapieerfolgen.
  7. Schließlich geht es darum, mit dem Merkmal der mentalen Überprüfung umzugehen.

Anstöße zur Überprüfung

Dozier und Mitchell sehen Lücken in der Forschung und betonen, dass weitere Untersuchungen nötig sind, um das vorgestellte Modell zu überprüfen, vor allem die IPR. Zudem sind bislang unbekannte Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge möglicherweise nicht erfasst. Noch besser geklärt werden muss auch, wie Phasen zwei und drei zusammenhängen.

Die Autoren unterstreichen, dass es schwierig ist, die IPR experimentell zu erforschen, zumal sie bei jedem Menschen sehr unterschiedlich sind. Erschwerend hinzu kommt, dass sich betroffene Muskel vielfach tief im Körper befinden, Bislang stützen sich Studien zu den IPR vor allem auf Selbstberichte.

CARD statt Misophonie

Obwohl sie bislang nur „vorläufige Belege“ für ihr Modell haben, sind Dozier und Mitchell überzeugt, dass es grundsätzlich korrekt ist und eine umfassende Theorie der Misophonie als konditionierte Reaktionsstörung liefern kann.

Sie gehen davon aus, dass nach einer Überprüfung das Modell als eine mögliche Definition von Misophonie angesehen werden könnte. Daher schlagen sie vor, dass Conditioned Aversive Response Disorder (CARD) eine angemessenere Bezeichnung ist als Misophonie.

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